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Einführung
von Professor Dr. Jörn Ipsen
Mit dem Tod des Königs Wilhelm IV. am 20. Juni 1837 endete die Personalunion zwischen Großbritannien und dem Königreich Hannover. Nach dem in Hannover geltenden salischen Erbrecht war eine weibliche Thronfolge ausgeschlossen, solange männliche Agnaten vorhanden waren. Der Königsthron fiel deshalb an den ältesten Bruder Königs Wilhelm IV. Ernst August, Herzog von Cumberland. Dieser erreichte Hannover am 28. Juni und empfing nach seiner Ankunft Georg von Schele, der der Ersten Kammer der Ständeversammlung angehörte, zu einem Gespräch, das bis nach Mitternacht dauerte. Schele schlug dem König vor, die in Hannover versammelte Ständeversammlung sofort aufzulösen und das Staatsgrundgesetz, das seit dem 9. Oktober 1833 in Geltung war, für „null und nichtig“ zu erklären.
Das Staatsgrundgesetz war aufgrund verschiedener Entwürfe und längerer Verhandlungen in einer von der Regierung und den Ständen besetzten Kommission zustande gekommen, vom König in einer Reihe von Punkten geändert und in der Fassung vom 26. September 1833 verkündet worden. Der Herzog von Cumberland hatte gegen das Staatsgrundgesetz protestiert, weil er ihm als Agnat nicht seine Zustimmung gegeben hatte, wie er sich bereits gegen das vom Prinzregenten am 7. Dezember 1819 erlassene „Patent, die Verfassung der Allgemeinen Stände-Versammlung des Königreichs betreffend“ verwahrt hatte. Weder seinerzeit der Prinzregent, noch später König Wilhelm IV. hatten jedoch die Zustimmung der Agnaten als erforderlich angesehen und beide Rechtsakte trotz des Protestes erlassen.
Der Herzog von Cumberland, dessen Thronbesteigung mit zunehmendem Alter und verschlechtertem Gesundheitszustand des Königs immer näher rückte, fand in Georg von Schele einen Verbündeten für einen nach der Thronbesteigung auszuführenden Staatsstreich. Bei einer ersten Begegnung Anfang Dezember 1835 in Hannover wurden bereits Grundzüge eines solchen Plans erörtert. Auf „Befehl“ des Herzogs von Cumberland fertigte Schele ein „Pro Memoria“ – eine Art Rechtsgutachten – an, das er am 8. Januar 1836 an den Herzog übersandte. Dieser hatte seinen Wohnsitz im Jahr 1819 nach Berlin verlegt und residierte dort in einem Palais unter den Linden. Mit der Beförderung der Schreiben Scheles wurde der Generalpostmeister Rudloff beauftragt, der diese an Deckadressen in Berlin auszuliefern hatte.
In dem „Pro Memoria“, das sich in Scheles Nachlass befindet und als einziges Dokument in dem Werk von William von Hassell, Geschichte des Königreichs Hannover (1898), publiziert worden ist, vertrat Schele die Auffassung, dass das Staatsgrundgesetz wegen fehlender Zustimmung der Stände zu den vom König vorgenommenen Änderungen und wegen der
mangelnden Zustimmung des Agnaten zur Zusammenlegung der Kassen „null und nichtig“ sei.
Schele hatte an der Universität Göttingen Rechtswissenschaften studiert und war unter anderem Hörer des berühmten Professors Pütter gewesen. Er trat zunächst in den Hannoverschen Staatsdienst ein und wechselte dann in das Amt eines Kammerherrn am Hofe Königs Jérôme von Westfalen. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft kämpfte er um seine Rehabilitation und wurde Mitglied der Ersten Kammer der Ständeversammlung. Er verfügte über breite staatsrechtliche Kenntnisse und ausgeprägte analytische Fähigkeiten. In seiner Grundhaltung war er ein Hochkonservativer, der mit aller Entschlossenheit die überkommenen Rechte des Adels verfocht und den heraufziehenden Liberalismus mit unerbittlicher Feindschaft verfolgte.
Der Herzog von Cumberland teilte Scheles Grundpositionen und war seinerseits im Oberhaus des Vereinigten Königreichs zum Führer der Tories aufgestiegen. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin stand er in enger Verbindung zum Preußischen Hof. Seit 1815 war er mit der Mecklenburgischen Prinzessin Friederike, der Schwester der im Jahr 1810 verstorbenen Preußischen Königin Luise verheiratet und somit ein angeheirateter Schwager Königs Wilhelms III. von Preußen.
Nach Erhalt des „Pro Memoria“ entwickelte sich zwischen dem Herzog von Cumberland und Schele ein intensiver Austausch von Schreiben, deren Entwürfe und Abschriften sich im Nachlass Scheles befinden. Schele berichtete dem Herzog in regelmäßiger Folge über die Verhältnisse im Königreich. Die gesetzgeberischen Aktivitäten der Stände wurden von ihm nachhaltig kritisiert und die leitenden Beamten und verantwortlichen Minister für unfähig erklärt. Der Herzog musste aufgrund dieser Berichte den Eindruck gewinnen, das Königreich werde schlecht regiert und erwarte in Gestalt des Thronfolgers die Beseitigung aller offensichtlichen Missstände. Je näher der Tod König Wilhelms IV. und damit die Thronbesteigung des Herzogs rückte, desto konkreter wurden die Staatsstreichpläne Scheles, die schließlich in Entwürfen zu einem Antrittspatent gipfelten.
Aufgrund der Schreiben Scheles und der im Nachlass befindlichen Vermerke und Entwürfe lässt sich die Planung des Staatsstreichs exakt rekonstruieren. Neben der Auflösung der Kammern und der Nichtigerklärung des Staatsgrundgesetzes empfahl Schele die Einsetzung eines Kabinettsministers anstelle des bisherigen kollegialen Kabinetts. Für diesen Posten schlug er zwar seinen erst 32-jährigen Sohn Eduard vor, hielt sich fraglos aber allein selbst für befähigt, den Staatsstreich durchzuführen und die Regierung zu leiten. Scheles Staatsstreichplan schlug insofern fehl, als der König am 29. Juni 1837 die Ständeversammlung nur vertagte, nicht aber auflöste und sich in seinem Antrittspatent vom 5. Juli 1837 eine Frist zur weiteren Prüfung ausbedingte. Allerdings sprach er bereits im
Antrittspatent unumwunden aus, dass er sich an das Staatsgrundgesetz weder in formeller noch in materieller Hinsicht gebunden sehe.
Damit war der erste Akt des Staatsstreichs vollzogen. Immerhin konnten sich die Kammern in der Hoffnung wiegen, nach der Vertagung wieder einberufen zu werden, um mit dem König über Änderungen des Staatsgrundgesetzes zu verhandeln. Zwei Gutachten indes bestätigten die Rechtswirksamkeit des Staatsgrundgesetzes. Das erste Gutachten wurde vom Kabinettsministerium erstellt und dem König am 14. Juli 1837 zugesandt. Gegen die Stimme Scheles, der inzwischen zum Kabinettsminister ernannt worden war, beschloss das Kabinett ein von Falcke vorbereitetes Gutachten, in dem beide von Schele schon im Pro Memoria erhobenen Einwände widerlegt wurden. Das Kabinettsgutachten ist im Original nicht enthalten. Im Nachlass Falckes findet sich jedoch eine Abschrift, die mit dem Original zweifelsfrei übereinstimmt.
Nach diesem ersten Fehlschlag ernannte der König eine Kommission von Juristen, in der neben Schele der Justizkanzleidirektor Justus Christoph Leist angehörte. Das Kommissionsgutachten wurde dem König am 28. Juli 1837 überreicht, kam aber zum gleichen Ergebnis wie das Kabinettsgutachten. Auch das Kommissionsgutachten ist nicht erhalten. Aus dem weiteren Vorgehen Scheles und des Königs lassen sich indes Rückschlüsse auf seinen Inhalt ziehen.
Nach diesen beiden Fehlschlägen wurde Justus Christoph Leist mit einem weiteren Gutachten beauftragt, bei dessen Anfertigung er sich ständigen Interventionen Scheles ausgesetzt sah. Dessen „Bemerkungen“ wurden in das Gutachten aufgenommen und erörtert. Spätere Einfügungen von eigener Hand in das in der ersten Fassung von einem Kanzlisten geschriebenen Gutachten zeigen ebenfalls den Einfluss Scheles. Das Gutachten Leists trägt das Datum vom 16. September 1837 und kommt keineswegs unverrückbar zu dem Ergebnis, das Staatsgrundgesetz sei von Beginn an nichtig gewesen, sondern eröffnet dem König unterschiedliche Handlungsoptionen. Das Leist’sche Gutachten, das einen Umfang von mehr als 300 Seiten aufweist, ist weder seinerzeit noch später publiziert worden, obwohl es dem König und Schele zur Rechtfertigung des Staatsstreichs dienen sollte.
In der Zeit zwischen dem Antrittspatent vom 5. Juli 1837 und der Vollendung des Staatsstreichs mit dem Aufhebungspatent vom 1. November entfalteten der König und Schele diplomatische Aktivitäten, um den Staatsstreich außenpolitisch abzusichern. Die Kontakte zum Preußischen Hof übernahm im Wesentlichen der König selbst, während Schele mit dem österreichischen Staatskanzler Fürst Metternich korrespondierte, der ihn dann allerdings auf die diplomatisch üblichen Wege verwies.
Die Phase der diplomatischen Absicherung des Staatsstreichs diente ebenfalls der Beobachtung der politischen Verhältnisse innerhalb des Königreichs. Schele hatte Vorsorgemaßnahmen für einen militärischen Einsatz für den Fall von Widerständen in der Bevölkerung empfohlen. Diese erwiesen sich jedoch als überflüssig, weil das Aufhebungspatent vom 1. November 1837 keinen nennenswerten Widerstand in der Bevölkerung erregte. Die im Patent verkündete Herabsetzung der direkten Steuern und 100.000 Taler pro Jahr tat ein Übriges, das Volk zu beruhigen.
Bemerkenswert ist, dass mit dem Patent vom 1. November 1837 das Staatsgrundgesetz nicht für nichtig erklärt, sondern aufgehoben wurde, mit anderen Worte seine Geltung bis zu diesem Zeitpunkt bestätigt wurde und die unter seiner Geltung erlassenen Gesetze unberührt blieben. Mit dem Aufhebungspatent wurde das Patent von 1819 in Kraft gesetzt und die hierin enthaltenen Bestimmungen über die Ständeversammlung für wirksam erklärt. Überdies wurde durch ein Reskript bestimmt, dass in der Person Scheles ein leitender Kabinettsminister eingesetzt wurde, dem die Departmentminister nachgeordnet waren und kein unmittelbares Vortragsrecht beim König hatten. Nach einem formellen Rücktrittsangebot ließen sich die bisherigen Mitglieder des Kabinetts zu Departmentministern ernennen.
Der Staatsstreich war damit vollendet und eine über vier Jahre in unbestrittener Geltung stehende Verfassung aufgehoben. Das Patent von 1819, das kraft des königlichen Willens an die Stelle des Staatsgrundgesetzes treten sollte, war lediglich ein Organisationsedikt für die allgemeine Ständeversammlung und deshalb nicht als Verfassung im Sinne konstitutioneller Staatsrechtslehre anzusprechen.
Wenige Tage nach Verkündung des Aufhebungspatents folgte die Protestation der sieben Göttinger Professoren, die der König mit der Entlassung der Göttinger Sieben aus ihren Ämtern und der Vertreibung von drei von ihnen aus dem Königreich beantwortete. Weniger Beachtung hat in der Geschichtsschreibung die Verfassungsbeschwerde des Magistrats der Stadt Osnabrück gefunden, die zu einem Verfahren vor der Bundesversammlung in Frankfurt führte. Der Magistrat wurde zwar im Ergebnis als nicht „legitimiert“ zur Beschwerdeerhebung angesehen; seine Eingaben führten indes dazu, dass die „Hannöversche Verfassungsfrage“ in allen Staaten des Deutschen Bundes diskutiert wurde. Nach Zurückweisung der Osnabrücker Verfassungsbeschwerde leiteten mehrere Mitgliedstaaten ein Verfahren mit dem Ziel ein, den Deutschen Bund zum Eingreifen in der Verfassungsfrage zu bewegen. Mehrheitlich beschloss die Bundesversammlung, die Verfassungsfrage als innere Angelegenheit des Königreichs zu betrachten, sprach aber die Erwartung aus, dass alsbald eine neue Verfassung erlassen würde. Das Königreich Hannover wurde in dem Verfahren vor der Bundesversammlung von Leist vertreten.
Die beiden folgenden Jahre waren durch einen Verfassungskampf zwischen dem König und den Ständen gekennzeichnet, in dem Schele unter Verwendung aller repressiven Mittel schließlich eine knapp beschlussfähige Zusammensetzung der Zweiten Kammer erreichte. Die sprichwörtlichen „Wahlquälereien“ waren für den Magistrat der Residenzstadt Hannover Anlass, sich seinerseits mit flammenden Eingaben an die Bundesversammlung zu wenden, die jedoch ebenso wenig Erfolg hatten wie die Verfassungsbeschwerde der Stadt Osnabrück. Die Unterzeichner der Eingaben wurden strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt und schließlich wegen Beleidigung des Kabinettsministeriums – will heißen des Kabinettsministers Schele – verurteilt.
Eine nach langwierigen Verhandlungen zwischen dem Kabinettsministerium und der Ständeversammlung zustande gekommenes „Landesverfassungs-Gesetz“ wurde schließlich am 6. August 1840 erlassen. Obwohl das Landesverfassungs-Gesetz in Aufbau und Umfang weitgehend mit dem Staatsgrundgesetz von 1833 übereinstimmte, war die Rechtsstellung der Kammern erheblich geschwächt und die des Königs und seines Kabinettsministers nachhaltig gestärkt.
Dem anhaltenden Widerstand in der Zweiten Kammer gegen die Verfassung begegneten Ernst August und Schele mit weiteren Repressalien. Eine gewisse Entspannung im Verhältnis von König und Ständeversammlung trat erst nach dem Tod Scheles im Jahr 1844 ein. Dessen Nachfolger Falcke verfolgte gegenüber der Zweiten Kammer eine etwas geschmeidigere Politik, die allerdings nichts an dem Rückschlag änderte, den die konstitutionelle Bewegung im Königreich Hannover durch den Staatsstreich erlitten hatte. Erst durch die vom „März- Ministerium“ im Jahr 1848 veranlassten Änderungen des Landes-Verfassungsgesetzes wurde ein dem Staatsgrundgesetz nachgebildetes Gleichgewicht von Monarch und Ständeversammlung wiederhergestellt. Dieses war allerdings nicht von Dauer, weil die Bundesversammlung in der Reaktionszeit die Verfassungsänderungen als mit Bundesrecht unvereinbar erklärte.